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Referentenentwurf-GKV-Finanzstabilisierungsgesetz

Gesundheit

Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit eines Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – GKV-FinStG)

1 Vorbemerkung: Verfahrensrechtlicher Protest

Der SoVD protestiert scharf gegen die knappe Frist zur Stellungnahme von wenigen Tagen im hiesigen Beteiligungsverfahren. Gemäß § 47 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) sind betroffene Verbände im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren rechtzeitig zu beteiligen. Hiervon kann im gegenwärtigen Verfahren keine Rede sein. Die Aufforderung zur Stellungnahme wurde mit E-Mail von Freitagnachmittag, den 8. Juli 2022 mit einer inakzeptablen Frist zur Stellungnahme bis lediglich zum folgenden Dienstag, den 12. Juli 2022 um 12 Uhr übersandt.

Der Entwurf hat nicht weniger als die Stabilisierung der Finanzsituation der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zum Regelungsgegenstand und ist angesichts der alarmierenden GKV-Finanzierungslücke von immenser sozialpolitischer und gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Erneut werden Fristen für die Verbändebeteiligung inakzeptabel kurz für eine sachgerechte und fundierte Bewertung der Referenten- bzw. Gesetzentwürfe gesetzt. Eine demokratische Beteiligung ist bei Rückmeldefristen von ein bis zwei Tagen nicht mehr gewährleistet.

2 Zusammenfassung des Gesetzesentwurfs

Durch den demografischen Wandel und die rückläufige Zahl der Beschäftigten infolge der CoronaPandemie wird für die kommenden Jahre mit einem geringeren Anstieg der beitragspflichtigen Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gerechnet. Dies trägt maßgeblich zur aufwachsenden GKVFinanzierungslücke seit dem Jahr 2020 bei. Laut Entwurf würde ohne zusätzliche Maßnahmen der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz in der GKV im Jahr 2023 von derzeit 1,3 Prozent um rund einen Prozentpunkt steigen und anschließend aufgrund der Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben jedes Jahr um weitere 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte zunehmen. Ein Beitragssatzpunkt entspricht rund 16 Milliarden Euro.

Mit einem Maßnahmenpaket soll ein Anstieg der Zusatzbeiträge ab dem Jahr 2023 begrenzt werden. Dazu sieht der Entwurf die folgenden wesentlichen Maßnahmen vor:

  • Neben einem erwarteten Anstieg der kassenindividuellen Zusatzbeiträge von 0,2 bis 0,3 Prozentpunkten, sollen aus Beitragsmitteln vorhandene Finanzreserven der Krankenkassen mit einem kassenübergreifenden Solidarausgleich zur Stabilisierung der Beitragssätze herangezogen werden.
  • Der Bund leistet im Jahr 2023 einen Zuschuss an den Gesundheitsfonds in Höhe von 2 Milliarden Euro. Hinzu kommt nach dem Entwurf des Haushaltsgesetzes 2023 für das Jahr 2023 ein Bundesdarlehen in Höhe von 1 Milliarde Euro an den Gesundheitsfonds.
  • Zur Stabilisierung der Arzneimittelausgaben der GKV werden das Preismoratorium über den 31. Dezember 2022 hinaus um weitere vier Jahre verlängert, der Apothekenabschlag für die Dauer von zwei Jahren auf 2 Euro erhöht und für die Jahre 2023 und 2024 eine Solidaritätsabgabe pharmazeutischer Unternehmen von jeweils einer Milliarde Euro erhoben.Zugleich sind zusätzliche Schritte zur Weiterentwicklung des Verfahrens nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) vorgesehen.
  • Die mit dem Terminserviceund Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführte Regelung, nach der die ärztlichen Leistungen für die Behandlung von Patient*innen, die erstmals oder erstmals seit mehr als zwei Jahren wieder in der jeweiligen Arztpraxis behandelt werden, extrabudgetär vergütet werden, wird aufgehoben.

3 Gesamtbewertung

Erste Schätzungen zu Beginn dieses Jahres bezifferten ein drohendes GKVDefizit für das Jahr 2023 bereits auf 17 Milliarden Euro. Nach Berechnungen des Instituts für Gesundheitsökonomie (IfG) k önnte sich das Defizit wegen des Ukrainekrieges und den Folgen gar auf bis zu 25 Milliarden Euro belaufen. In Anbetracht des prognostizierten Finanzdefizits der GKV für das Jahr 2023 und mit Blick auf die im Koalitionsvertrag 2021–2025 angekündigten Vereinbarungen bleibt der Entwurf mit seinen Maßnahmen weit hinter den Erwartungen und notwendigen Schritten zurück. Notwendig sind v.a. grundlegende und zukunftsgerichtete Reformen für die Finanzierung der GKV. Stattdessen bedient sich der Entwurf an den verbliebenen Finanzreserven der GKV, die aus Beitragsrücklagen der Versicherten gebildet wurden, und bittet die Beitragszahlenden obendrein durch höhere Zusatzbeitragssätze zusätzlich zur Kasse, um das Defizit kurzfristig zu schließen. Die Folgen sind absehbar: Das grundlegende Problem wird lediglich um ein Jahr vertagt.

Wichtiger als kurzfristige Finanzspritzen sind grundlegende Maßnahmen zur finanziellen Entlastung und Stärkung der gesetzlichen Krankenversicherung. Stellschrauben gibt es genug: Zur Stärkung der Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung müssen als Sofortmaßnahmen die private Krankenversicherung in einen umfassenden Solidarausgleich einbezogen und die Versicherungspflicht­grenze erhöht werden. Darüber hinaus ist die Beitragsbemessungsgrenze in einem ersten Schritt zumindest auf das Niveau in der Rentenversicherung anzuheben.

Um die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erfassen und für die Beitragsbemessung heranzuziehen, ist es erforderlich, neben den Erwerbseinkommen regelmäßig auch andere Einkünfte einzubeziehen, etwa aus Vermietung,Verpachtung und Kapital. Um eine bedarfsgerechte und leistungsfähige Versorgung für alle sicherzustellen, muss ein einheitliches Versicherungssystem auf Grundlage der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen werden, dass alle gerecht in die Finanzierung einbezieht.

4 Zu den einzelnen Regelungskomplexen

SoVD betont die finanzielle Verantwortung des Bundes

Der Bund unternimmt den erkennbar bundeshaushalterisch motivierten Versuch, sich für das Jahr 2023 aus seiner finanziellen Verantwortung zu ziehen, indem er lediglich einen „Obolus“ in Form eines 2-Milliarden-Euro Bundeszuschusses an den Gesundheitsfonds beisteuert. Dies ist angesichts des bereits heute prognostizierten Defizits weder angemessen noch erwartungsgemäß ausreichend.Allein für das gegenwärtige Jahr 2022 wurde ein ergänzender Bundeszuschuss in Höhe von 14 Milliarden Euro notwendig, nachdem der Schätzerkreis einen erhöhten Finanzbedarf durch die Covid19-Pandemie in Verbindung mit der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise festgestellt hat.

Letztlich konnte der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz somit kurzfristig bei 1,3 Prozent stabilisiert werden. Derzeit erlebt Deutschland die erste Corona-Welle im Hochsommer seit Beginn der Pandemie. Eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht. Dies dürfte auch für die Entwicklung des Defizits gelten.

Vielmehr ist eine deutliche Erhöhung des Bundeszuschusses allein zur Finanzierung von versicherungsfremden Leistungen erforderlich. Laut der gesetzlichen Krankenkassen leistet der Staat beispielsweise pro Jahr 10 Milliarden Euro weniger für die gesundheitliche Versorgung von ALGII-Empfänger*innen aus Steuermitteln, als den Kassen Kosten für die Versorgung dieses Personenkreises entstehen. Letztlich müssen die Beitragszahler*innen für die Unterfinanzierung aufkommen. Auch eine notwendige, regelhafte Dynamisierung des Bundeszuschusses, wie sie im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, sucht man vergebens in dem Entwurf.

Noch zeitweiliger als der geringe Bundeszuschuss wirkt das Bundesdarlehen an den Gesundheitsfonds, das den Kassen in Höhe von einer Milliarde Euro für das Jahr 2023 gewährt wird. Zur finanziellen Stabilisierung wird den Kassen ein Bundesdarlehen aufgezwungen. Zudem muss das Darlehen als solches zurückgezahlt werden, was die Finanzlage bei ausbleibenden Reformen in den kommenden Jahren zusätzlich verschärfen dürfte.

Hauptlast bei Beitragszahler*innen ist inakzeptabel

Die Finanzierungslücken sollen vor allem die Beitragszahlenden schließen und dafür kräftig zur Kasse gebeten werden.Angesichts der hohen aktuellen Inflation und weiter steigender Lebenshaltungskosten ist eine derart hohe Belastung der Beitragszahlenden nicht akzeptabel. Der Entwurf sieht den Anstieg des Zusatzbeitragssatzes um jährlich 0,3 Prozentpunkte offensichtlich als gesetzt an. Mit einem Maßnahmenpaket soll ein weiterer Anstieg der Zusatzbeitragssätze sehenden Auges „ab dem Jahr 2023“ lediglich begrenzt werden. Höhere Zusatzbeiträge sind nicht ausgeschlossen, zumal aktuelle Berechnungen das GKVDefizit bereits jetzt deutlich höher kalkulieren. Der eingeplante Anstieg der Zusatzbeiträge gleicht einem „Taschenspielertrick“: Gesetzliche Krankenkassen dürfen einen Zusatzbeitrag zum normalen Beitrag verlangen. Die Höhe variiert dabei von Kasse zu Kasse, denn jede kann bzw. muss ihn selbst festlegen.

Der Bund vermeidet dadurch weitere notwendige „finanzstabilisierende Maßnahmen“ seinerseits und „verlagert“ die Verantwortung zur Refinanzierung des Defizits letztlich auf die im Wettbewerb untereinander befindlichen Kassen. Letztlich wird der Preiswettbewerb unter den Kassen dadurch weiter verschärft. Dies wird durch die Abführung und Abschmelzung von Finanzreserven in der GKV zusätzlich verstärkt. Für die Versicherten führt die beibehaltene Unterscheidung zwischen allgemeinen und kassenindividuellen Zusatzbeitrag zu Intransparenz und Unklarheiten, was die tatsächliche Beitragslast angeht. Obgleich seit 1.1.2019 auch der kassenindividuelle Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung wieder jeweils zur Hälfte von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen getragen werden, wird an der Unterscheidung zwischen allgemeinem und Zusatzbeitrag weiterhin festgehalten.

Der SoVD hat wiederholt die Beibehaltung der Beitragsunterscheidung angemahnt. Mit der Wiederherstellung der vollen Beitragsparität durch das GKVVersichertenentlastungsgesetz (GKVVEG) hat die Unterscheidung zwischen allgemeinen Beitragssatz und kassenindividuellen Zusatzbeitrag jedoch zwangsläufig ausgedient. Die Notwendigkeit der Unterscheidung besteht nicht mehr. Vor diesem Hintergrund fordert der SoVD die Einführung eines kassenindividuellen, allgemeinen Beitragssatzes.

Anstatt nachhaltige Reformen auf den Weg zu bringen, ist die Reduzierung und der Abbau von Beitragsrücklagen der Kassen durch einen kassenübergreifenden Solidarausgleich und eine Reduzierung der Obergrenzen für die Finanzreserven vorgesehen. Mag dies auch kurzfristig eine finanzielle Entlastung bringen, kann die Reduzierung von Beitragsrücklagen und die Absenkung von Obergrenzen zum Ausgleich eines Defizits nur ein einziges Mal genutzt werden. Diese Beitragsgelder stehen künftig nicht mehr für die Versorgung zur Verfügung oder fehlen für kurzfristige Überbrückungsfinanzierungen. Doch langfristige Finanzierungslösungen fehlen.

Arzneimittelversorgung: Langfristige Lösungen notwendig

Die Pharmafirmen testen die Zahlungsbereitschaft der Solidargemeinschaft immer weiter aus. Im Jahr 2020 wurden 43,3 Mrd. Euro in der GKV für Arzneimittel ausgegeben, was einem Anteil von 16,5 Prozent an den Leistungsausgaben entspricht. Somit ist dieser Sektor der drittgrößte nach den Ausgaben für den stationären Bereich (Krankenhaus), jedoch weniger als halb so groß wie dieser. Mag eine solidarische Beteiligung der pharmazeutischen Unternehmen an der Schließung des GKV-Defizits auch angemessen sein, bringt die Sonderabgabe gleichwohl nur eine kurzfristige finanzielle Entlastung für die Jahre 2023 und 2024. Notwendig sind langfristige Lösungen, auch zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben.

Erste, begrüßenswerte Schritte zur Weiterentwicklung des ArzneimittelmarktneuordnungsgesetzVerfahrens (AMNOGVerfahren) sieht der Entwurf zwar vor, gehen jedoch noch nicht weit genug. Weitere Schritte müssen folgen. Jüngst veröffentlichte der SoVD ein Forderungspapier für eine bedarfsgerechte und preiswerte Arzneimittelversorgung. Darin fordert der SoVD v.a. die Notwendigkeit einer ausgabenkorrigierenden Reform des AMNOG und strengere Rahmenbedingungen. Um dem ungebremsten Preisanstieg bei neu zugelassenen Medikamenten entgegenzuwirken, muss vor der Zulassung eine Schnellbewertung der KostenNutzenRelation eingeführt werden (sogenannte vierte Hürde), auf Grundlage derer im Anschluss die Preisbildung erfolgt.

Das würde verhindern, dass Hersteller in den ersten zwölf Monaten die Preise für neue Medikamente selbst bestimmen können. Zudem würde von Beginn an Klarheit darüber herrschen, ob ein neues Medikament den vorgesehenen Zusatznutzen wirklich erfüllt. Zur finanziellen Entlastung von privaten Haushalten und des Gesundheitssystems ist zudem die Senkung der Mehrwehrsteuer auf Arzneimittel von 19 auf sieben Prozent notwendig.

Die im Referentenentwurf vorgesehene Verlängerung des Preismoratoriums um vier Jahre wird begrüßt. Dadurch werden einseitig bestimmte Preissteigerungen der pharmazeutischen Unternehmen weiterhin nicht zulasten der Krankenkassen und sonstigen Kostenträger abgerechnet. Auch die Erhöhung des Apothekenabschlags für zwei Jahre von 1,77 Euro auf 2 Euro ist angemessen. Seit 2007 erhalten die Krankenkassen von den Apotheken auf verschreibungspflichtige Arzneimittel einen sogenannten Apothekenabschlag als Rabatt.

Ausgabenbegrenzung im ambulanten Bereich

Die im Referentenentwurf vorgesehene Aufhebung der mit dem Terminserviceund Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführten extrabudgetären Vergütung für die (Wieder)Behandlung von Patient*innen, die erstmals in der jeweiligen Arztpraxis vorstellig werden oder die seit mindestens zwei Jahren nicht in der jeweiligen Arztpraxis vorstellig geworden sind, wird begrüßt. Die dadurch entstehenden jährlichen GKVMinderausgaben beziffert der Referentenentwurf auf einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag.

Der SoVD befürchtete von Anfang an Fehlanreize und eine Zunahme des bürokratischen Aufwandes. Eine spürbare Verbesserung der Versorgung durch die extrabudgetären Anreize konnte in der Zeit nicht festgestellt werden. Die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen müssen die hausund fachärztliche Versorgung für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung sicherstellen. Statt ineffektiver finanzieller Anreize sollten aus Sicht des SoVD die Vergütung der ambulanten ärztlichen Versorgung generell überarbeitet und das Vergütungssystem mit Wirkung für alle Akteur*innen der ambulanten ärztlichen Versorgung weiterentwickelt werden.

Berlin, 12. Juli 2022
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik